Auszug aus "Cinecittà aperta", gelesen vom Autor-Regisseur und seinen Schauspielern bei der Preisverleihung am 14. Juni 2009
Unsterbliche Überreste
von René Pollesch
MARTIN: In einem Bild der Geschichte, die immer als unsere Geschichte erzählt wird, zeichnet sich keine Gestalt unseres Wesens ab, das hab ich immer vermutet, dass die Historie nichts mit mir zu tun hat. Und d a s ist Darwin. Die Erkenntnis, dass die Historie nichts mit mir zu tun hat. Woher ich komme, kann mir Darwin erklären, aber nicht die Geschichte. Nicht Deutschland im Jahre Null. Und wie Rosselini das will, lernt auch kein Kind Lebensfreude vor dem Ausgang der Geschichte. Die Lebensfreude ist das Ergebnis von strategisch offenen Kräftekonstellationen und nicht die Väter, und nicht die Mütter. Woher ich komme, das bedeutet nichts, wenn ich sehe wie meine Mutter ihre Wesenheit ändert im Sterben, ich sehe sie diskontinuierlich, zufällig etwas anderes werden. Das ist der Tod und das ist der Schwarzmarkt. Das ist die Errungenschaft eine Personenwaage an den Mann zu bringen. Das ist nicht die Geschichte, das ist nicht der Tod, das ist der Körper hier und jetzt. Und das hier und jetzt darf niemals sentimental verstanden werden.
Feierstunde zur Preisverleihung an Elfriede Jelinek und René Pollesch am 14. Juni 2009
Schiller und der Strudelteig
von Anne Peter
16. Juni 2009. "Das Theater ist die Müllabfuhr für die Seele." Mit den Worten des Theatermanns Hansgünther Heyme beschwört die Oberbürgermeisterin der "Theaterstadt Mülheim", Dagmar Mühlenfeld, die Dringlichkeit der Kunst in "Zeiten der Krise". Auch der Verweis auf die bleibende Gültigkeit von Schillers klassischen Texte zur "Schaubühne als moralische Anstalt" und zur "ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts" darf bei der Feierstunde für die Dramatikerpreisträgerin Elfriede Jelinek und Publikumspreisträger René Pollesch nicht fehlen. Kultur, Theater, "wir brauchen das alles, damit unsere Seelen gesund bleiben."
Für Katja Bürkle und Hildegard Schmahl anlässlich der Feierstunde für die Mülheimer Preisträger am 14. Juni 2009
An der Zukunft hängen, an der Zukunft dranhängen, etwas an die Zukunft dranhängen und einen Hänger annähen. Frauenarbeit halt.
von Elfriede Jelinek
Presserundschau zur Jurydebatte und Preisvergabe der 34. Mülheimer Theatertage
Wo der Diskurs tobt
4. Juni 2009. Siege ohne hartnäckige Gefechte wirken stets etwas glanzlos. Entsprechend unaufgeregt beglückwünschen die Pressekollegen Elfriede Jelinek zum diesjährigen Dramatikerpreis und zeigen sich leise enttäuscht von einem Jahrgang, dem es an neuen Stimmen und Höhepunkten mangelte. Herausragend seien vor allem die Inszenierungen gewesen.
Kommentar zur Jurydebatte um den 34. Mülheimer Dramatikerpreis
Alternativlos
von Christian Rakow
3. Juni 2009. Elfriede Jelinek also erhält den mit 15.000 Euro dotierten 34. Mülheimer Dramatikerpreis für Rechnitz (Der Würgeengel). Sie siegt mit einer gut einhundert eng bedruckte Seiten umfassenden Folge von Botenberichten zu einem Massaker an Zwangsarbeitern in den letzten Kriegstagen. Schonungslos sarkastisch, kalauernd, mäandernd. Es ist ein Stück, das sich in kunstvoller, rücksichtloser Weise den Sprachformen von Geschichtsleugnern und Geschichtsverdrehern angleicht, um sie in ihrem bizarren Herrschaftsdenken bloß zu stellen.
Die Jurydebatte – live kommentiert von unseren Lesern
Jurydebatte live
2. Juni 2009. Knapp anderthalb Stunden dauerte die Diskussion der fünf Preisjuroren. Am Ende des Abends sprachen sich vier von ihnen für Elfriede Jelinek aus, die damit für ihr Stück Rechnitz (Der Würgeengel) zum dritten Mal den mit 15.000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikerpreis 2009 erhielt. Der undotierte Publikumspreis ging hingegen an René Pollesch für Fantasma.
Im Jury Chat konnten die Leser die Jurydebatte live kommentieren. Nachzulesen ist das Ganze weiterhin im Kasten rechts.
Oder hier chronologischer Reihenfolge von oben nach unten.
Jury zur Vergabe des Mülheimer Dramatikerpreises berufen
Fünf für das beste Stück
20. April 2009. Einen guten Monat nach Bekanntgabe der nominierten Stücke, steht nun auch fest, wer über den diesjährigen Mülheimer Dramatikerpreis, dotiert mit 15.000 Euro, entscheiden wird. Ein Platz in der fünfköpfigem Jury, die nach dem letzten Festival-Gastspiel in einer öffentlichen Debatte über die Preisvergabe diskutiert, ist dabei stets für den Sprecher des Auswahlgremiums reserviert, in diesem Jahr Franz Wille, Redakteur von Theater heute. Die anderen Jury-Mitglieder sind die Regisseurin Felicitas Brucker, die im letzten Jahr ihre Inszenierung von Ewald Palmetshofers "hamlet ist tot. keine schwerkraft" in Mülheim gezeigt hat, der Intendant des Theater Oberhausen Peter Carp, die Leiziger Dramaturgin Heike Müller-Merten und der Theaterkritiker Dirk Pilz von nachtkritik.de.